KONZERT | WAS BLEIBT – Kammermusikfestival 2018
4. Juni 2018 Bridging Arts, Konzert
Was bleibt? Die Frage lässt so viele Interpretationsmöglichkeiten zu, dass sie genug Material bietet für viele künstlerische Festivals und ausführliche akademische Auseinandersetzung. Auf die Musik bezogen stellt sich die Frage, welche Werke haben die Kraft, ihre Epoche zu überleben? Wie hat ein Komponist einer bestimmten Epoche spätere beeinflusst? Welches musikalische Motiv können wir wiedererkennen, wenn es dereinst unzählige Verwandlungen durchlaufen hat?
Allgemeiner ausgedrückt, könnten wir uns fragen, was mit einer Gesellschaft passiert, in der die jungen Männer in den Krieg gezogen – und möglicherweise nicht zurückgekehrt sind. Was bleibt von einer Familie übrig, nachdem das eine oder andere Mitglied nicht mehr da ist – wegen Todes, einer Scheidung oder einer Abreise? Was bleibt dir von deiner Geschichte, wenn du deine Heimat verlassen hast, um anderswo ein neues Leben zu beginnen?
Die Kreation der Community-Oper von Bridging Arts, Was Bleibt…oder die Geschichte eines Rattenfängers, entsprang dem Wunsch, einer Antwort auf diese sozialen Fragen in einem neuen Szenario näher zu kommen. Vor zehn Jahren vergaben wir den Kompositionsauftrag für eine Oper an Matthew King. Auf den Erfolg dieses Werkes, Das Babylon Experiment, aufbauend, haben wir in diesem Jahr seine Oper The Pied Piper von 2015, für unsere Zwecke überarbeitet. Dabei ließen wir uns von der Frage leiten, wie Kinder sich heutzutage von der Stadt, in der sie leben, eingebunden oder ausgeschlossen fühlen. Welche Bestandteile des gesellschaftlichen Erbes erleben sie ernsthaft als die ihren? Welche Art von Gesellschaft stellen sie sich vor, die sie dereinst ihren eigenen Kindern oder Enkeln hinterlassen wollen? Schüler aus sechs Schulen im Großraum Nürnberg haben sich mit diesen Themen beschäftigt, zunächst im Klassenzimmer und dann, unterstützt von professionellen Sängern und Musikern, im Rahmen der Oper.
Unsere Leitfrage, Was bleibt?, stellt sich besonders dringlich in einer Großstadt wie Nürnberg mit ihrer berühmten mittelalterlichen Vergangenheit, die von den Perversionen des 20. Jahrhunderts vernichtet wurde. In den vielen Jahren, in denen ich durch Nürnbergs Altstadt spazierte, war ich oft erstaunt darüber, was wieder aufgebaut wurde und was nicht. Viel ist wieder da von der alten Pracht, um uns zu erfreuen; sogar einige originale Kostbarkeiten sind erhalten geblieben. Von anderen sind indessen nur noch die Namen übrig, die wir in Inschriften an Mauern ablesen können. Sie enden mit dem gleichen bleiernen „zerstört 194?“ und stehen für die wunderschönen Gebäude, die Jahrhunderte lang existiert haben. Der geisterhafte Grundriss der verschwundenen Moritzkapelle, die an die Nordseite der Sebalduskirche angrenzt und auf ihren Wiederaufbau durch künftige Generationen wartet, hat immer einen besonders starken Eindruck auf mich gemacht.
Im Süden der Stadt erinnern uns der mächtige Komplex der NS-Gebäude und sein neues Kuckucksnest, das Doku-Zentrum, daran, warum dieser ganze Wiederaufbau notwendig war. Die Entwürfe von Albert Speer wurden weder im Originalzustand restauriert noch abgerissen, um sie zu begraben und zu vergessen. Sie bleiben, verfallen langsam, sind aber physisch und in der städtischen Seele stets präsent als eine Last, die mit Anstand und moralischem Ernst geschultert wird, was der ehemalige Direktor des British Museum, Sir Neil MacGregor, in seinem Buch Germany: Memories of a Nation so bewundert hat.
Unsere Konzerte im September erkunden diese beiden diametral entgegen gesetzten Aspekte der Stadtgeschichte. Wir feiern die Pracht der Renaissance in der Altstadt, wenn unser Eröffnungskonzert sich zwischen dem Fembohaus und dem Hirsvogelsaal im Tucherschloss bewegt, und wir gedenken der jüngsten Tragödien mit Werken, die von Zerstörung in Kriegszeiten und Terrorismus in Friedenszeiten inspiriert worden sind. Wir umreißen zwei Jahrhunderte, verneigen uns vor der überdauernden Größe Claude Debussys, der 1918 verstorben ist, und vor Leonard Bernstein, der im selben Jahr geboren wurde, und schließlich und endlich blicken wir über alle Zeiten hinweg mit universalen, ewigen Stücken von Bach und Messiaen, dies als geistig erhebendes Finale unseres Wochenendfestivals.
Wir freuen uns darauf, Sie sowohl im Sommer als auch im Herbst begrüßen zu dürfen!
Andrew West